
Der Bildband auf Insta
Einblick in einen Mikrokosmos, zu dem man normalerweise keinen Zugang hat. Schräg, lustig und traurig: Ein Bildband jenseits der Klischees.
Authentische Porträts. Damits auch bei den Lesern ankommt. Kommunikation
KommunikationSie publizieren Bücher, organisieren Ausstellungen, schaffen Kunstwerke oder ein neues Sozialsystem: Wollte man all ihre Werke hier aufführen, würde ein Neujahrsblatt nicht ausreichen. Was sie gemeinsam haben: Sie sind Macherinnen und Macher. Zu keinem von ihnen passt eine einzige Berufsbezeichnung. Sie arbeiten an verschiedensten Projekten parallel, und die Ideen gehen ihnen niemals aus. Sie packen an, sie wollen bewegen – bewirken und beunruhigen damit nicht selten ihr Umfeld. Weil sie in keine Schublade passen und fadengerade sagen, was sie denken. Sie alle haben ihre Art und Weise gefunden, damit umzugehen. Auch mit ihrer eigenen Rastlosigkeit.
Dieter Müller, Redaktor Zuger NeujahrsblattDie Porträts sind so was von berührend und so wahnsinnig nahe bei den einzelnen Personen. Unglaublich. Ich bin ziemlich sprachlos.
Fragt man Martin Riesen, wie viele Projekte er gerade am Laufen hat, antwortet er: «Alle.» Er zählt schon lange nicht mehr, was er am Umsetzen ist und wie viele Pläne in Vorbereitungsphase sind.
Martin Riesen macht Videoinstallationen im kulturellen Bereich, zum Beispiel das Stage Design für Bands, für Bühnenstücke wie Tanz, Musicals oder Experimentelles oder auf Partys. Daneben arbeitet er bei der Stadt Zug als Raumplanungszeichner. Nach der Lehre studierte er Raumplanung, spielte in einer Band und arbeitete als Videojockey. 2009 gründete Martin Riesen mit Lukas Meier das VJ Duo «Rec.Design VJ Crew», womit er bis heute Videoanimationen und -projektionen entwickelt und umsetzt. Zwei der grössten Meilensteine waren sein sechsmonatiges Künstlerstipendium in Argentinien von der Stadt Zug sowie der Förderpreis für freies Künstlerisches Schaffen des Kantons Zug.
Martin Riesen, 32, Videokünstler und Raumplaner
Ich bin ein rastloser Kontrollfreak. Nicht gegenüber anderen, sondern gegenüber mir selbst. Es gibt Leute, die meinen, ich hätte hohe Ansprüche an sie. Doch sie wissen nicht, welche Ansprüche ich an mich selbst habe. Ich bin nie komplett mit meiner Arbeit zufrieden. Ich werde nie mit etwas von mir zufrieden sein. Ausnahmslos, keine Chance. Zufrieden sein mit einem Projekt hat zwei verschiedene Betrachtungsweisen: meine als Erschaffer und jene des Betrachters. Wenn ich etwas abliefere, bin ich mein grösster Kritiker. Ich werde in jeder meiner Arbeiten Verbesserungspotential sehen, sei es im Resultat oder im Prozess, im Umgang mit der Technik oder in den Finanzen, in allem. Aber dann gibt’s ja noch die Ansicht des Kunden oder des Betrachters. Und das ist, was du als Lob oder Kritik sehen solltest. Früher war es so, dass ich positive Feedbacks unter meine Zweifel gestellt habe und dachte, der sagt das ja nur, um mich zu loben. Heute weiss ich, das sind zwei verschiedene Dinge. Wenn der Kunde sagt, er sei zufrieden, dann muss ich da nichts hineininterpretieren.
Ich wollte mich lange selbst nicht als Künstler bezeichnen. Aus einem einfachen Grund: Ich bin ein Planer, ein sehr technisch strukturierter Mensch. Ich entwickle Videoinstallationen im performativen Bereich, vor allem an Kulturveranstaltungen. Eine künstlerische Vorgehensweise ist in meinen Augen – vielleicht ein Klischee – eher chaotisch. Du machst etwas gerade so, wie du emotional drauf bist, zerrst daran rum, verwirfst es und hast eine Erkenntnis dabei und startest neu. Als Planer gehe ich empirisch an etwas heran. Bei mir gibt’s keine Wunschvorstellung. Ich nehme die Gegebenheiten eines Raumes als Ausgangslage. Wenn es zum Beispiel um eine Projektion geht, frage ich zuerst, wo der Beamer hängen kann, welche Winkel und Objektive wir haben. Das ist manchmal auch eine Bremse, mit der ich mir zu früh Grenzen setze. Aber wenn Zeitdruck da ist, ist es halt wichtig, keine Zeit zu verlieren. Vergänglichkeit ist Teil des Konzepts. Wenn es um Performances bei Partys geht, mache ich mir keine Illusionen: Das bleibt den Besuchern keine 24 Stunden in den Köpfen. Das ist auch ein Wandel, in dem ich gerade stecke, ich möchte vermehrt etwas schaffen, was den Leuten länger in Erinnerung bleibt.
Ich glaube, ich bin an einem gewissen Punkt zu zuvorkommend. Ich kann schlecht Nein sagen. Das hat auch mit Rastlosigkeit zu tun. Rastlosigkeit ist nicht gut. Ich könnte ja auch mal Nein sagen, ich hätte dann mehr Zeit für andere Dinge. Aber ob das wirklich funktioniert? Das ist ähnlich wie die Frage, ob man nicht in Stress kommt, wenn man seine Aufgabe vor Ende der Deadline erledigt hat. Ich glaube, ich würde trotzdem noch weiter am Projekt arbeiten, um dann kurz vor Abgabetermin wieder in Zeitdruck zu geraten. Über all die Jahre habe ich gelernt, Ruhe zu bewahren. In meinem Job gibt’s enorm viele Deadline-Situationen und kurzfristige Änderungen. Früher wurde ich in Stresssituationen hässig. Heute weiss ich: Mit Stress machst du dich nur selbst kaputt, das hilft niemandem. In einer Songzeile der Eagles of Death Metal heisst es: «I’m never in a hurry, I’m just moving fast.» Das habe ich mir im Hinterkopf abgespeichert, wenn ich in eine stressige Situation gelange: Du bist nicht im Stress, du musst einfach vorwärtsmachen. Das ist ein Unterschied. Denn Stress heisst Kontrollverlust. Vorwärtsmachen heisst, ein Ziel vor Augen zu haben, die wichtigen Dinge in den Vordergrund zu stellen und dafür zu sorgen, dass das Ziel erreicht wird.
Zeit für mich selbst muss ich mir gezielt einrichten, manchmal auch erzwingen. Man muss am Abend mal sagen können: Jetzt ist Feierabend. Dann gehe ich mit meinem Faltkanu auf den See. Aber das ist nicht wirklich, um Zeit für mich selbst zu haben, sondern vielmehr, um nicht zugrunde zu gehen. Ich muss mich immer wieder entschleunigen. Zurzeit bin ich mit drei Künstlerinnen in einem zweiwöchigen Labor zum gemeinsamen Experimentieren ohne Ziel und Zeitdruck. Ausserdem plane ich mit meinem Bus «Klaus» ein Projekt, um verlassene Orte aufzuspüren, die mir Raum für meine Installationen geben.
Ich habe lieber Orte mit wenig Input, das gibt den Gedanken mehr Freiheit. Es ist wichtig, seine Identität immer wieder neu zu definieren. Das geht nicht im Alltag.
Meinen Job als Raumplanungszeichner bei der Stadt Zug habe ich per Ende Jahr gekündigt. Nicht, weil’s mir nicht gefallen hat – nein, das ist eine sehr erfüllende Arbeit –, sondern weil ich keine Zeit mehr für ein Privatleben hatte. Wenn dein Hobby zum Beruf wird, dann ist es Zeit, dir ein neues Hobby zu suchen.
Künstlerisches Schaffen dominiert das Leben von Brigitte Moser. Sie bezeichnet sich selbst als Kulturnomaden, hatte sie doch zuerst zwei Jahre eine Boutique in Zug, nachher 27 Jahre ihr Goldschmiedatelier in Baar, dann zehn Jahre in Zug, wieder zehn Jahre in Baar und ist jetzt zurück in Zug, im Atelier 63 an der Hofstrasse.
Daneben organisierte sie in ihrer Galerie stets Ausstellungen mit Künstlerinnen und Künstlern aus dem Kanton. Brigitte Moser lebte für Studienaufenthalte in verschiedenen Städten, unter anderem in Paris, Köln und Florenz. In Nîmes dozierte sie an der Ecole des Arts. Sie erhielt verschiedene Auszeichnungen wie 2016 den Zuger Anerkennungspreis der Direktion für Bildung und Kultur und 2017 die Kulturschärpe der Stadt Zug. Das Geheimnis von Schmuck liegt für sie im Entdecken und Neu-Interpretieren von Inhalten.
Brigitte Moser, 74, Kulturnomade und Goldschmied
Ich mache. Ich habe mein Leben lang gemacht, was ich will. Ich bin ein Macher. Das ist ein Vorteil. Du bist zwar manchmal nicht so beliebt. Denn ich geh vom Typ her lieber mit dem Kopf durch die Wand, lerne was daraus und gehe weiter. Mein Leben verdiene ich mit Schmuck. Ich bin Goldschmied. Nicht Goldschmiedin. Ich habe den Beruf zu einer Zeit gelernt, da war das eine Männerdomäne. Die männliche Bezeichnung passt besser zu mir. Vielleicht auch, weil ich nicht so mickrigen Schmuck herstelle. Ich bestücke Hals und Arme eher objektmässig. Es ist doch wunderbar, wenn man Kunst am eigenen Körper tragen kann und er nicht nur dazu da ist, zuhause an der Wand zu hängen. Die Arbeiten, die ich ausstelle, müssen ihre Trägerin suchen. Irgendwann kommt die richtige Person. Das ist genau, was ich möchte. Ich sehe sofort, wenn es passt. Selbst trage ich keinen Schmuck, das ist wohl «déformation professionelle».
Zu Beginn meiner Tätigkeit lebte ich im Grunde genommen in der falschen Zeit. Damals gab es nur Männer in diesem Beruf. Ich war vier Jahre lang das einzige Mädchen in der Goldschmiedeschule in Luzern und machte mich dann ziemlich schnell selbstständig. Ich war ein Exot im Schmuckgeschäft, erst noch in einem Dorf wie Baar. Normalerweise kauften die Männer ihren Frauen den Schmuck und gingen dafür nicht zu einer Frau. Mit der Zeit wurde das immer besser, als die Frauen sich in den 1980er Jahren von den Klischees befreiten und selbst entschieden, was sie tragen wollten.
Ich habe nie gesagt, ich emanzipiere mich jetzt oder ich will mich verwirklichen. Ich hatte nie die Wahl zu überlegen, soll ich oder soll ich nicht.
Ich musste Geld verdienen. Es war klar, ich mache das. Und zwar entweder richtig oder gar nicht. Als ich mich für die Selbstständigkeit entschied, war klar, dass ich keine Kinder will, fertig, Schluss. In einer Zeitung haben sie mich mal «Kulturnomade» genannt. Das finde ich sehr passend für mein Leben. Vielfach bewege ich mich als Nomade auf einsamem Posten. Es gab schon jene, die das, was ich tue, nicht lustig fanden. Vor allem Männer. Auch wenn ich sie nie als Konkurrenz empfunden habe, es war nicht einfach. Ich musste mir eine dicke Haut wachsen lassen und klar sagen, was ich will.
Ich werde oft gefragt, wo holst du die Ideen, wie geht es, dass du immer wieder Neues schaffst? Ich hab’ das einfach in mir drin, aber ich sehe mich nicht als rastlos. Ich bin einfach aktiv im Denken, im Sein, im Machen. Das soll man auch ausleben. Ich sammle zum Beispiel alte Ringe, Zeieli, Haare oder Knochen. Viele Leute bringen mir Erbstücke – auch Goldzähne von Verstorbenen. Mit den Jahren ist nun ein ganzer Sack voll zusammengekommen. Das gibt ein super Objekt: eine Kette aus alten Goldzähnen. Das sind emotional ziemlich geladene Teile, ich habe grossen Respekt vor ihrer Geschichte. Und es inspiriert mich, sie zu etwas Neuem zu kombinieren. Ich habe das Glück, dass es Leute gibt, die das, was ich mache, unterstützen. In meinem Leben hatte ich immer irgendwie mit Künstlern zu tun. In Baar habe ich 27 Jahre lang regelmässig Ausstellungen organisiert und das ganze Spektrum von Kunst gezeigt. Irgendwann mal haben sich die älteren Künstler beklagt, dass man sie nicht mehr ausstellt. Mit meiner Ausstellung «frisch von heute» wollte ich zeigen, dass sie immer noch am Schaffen sind.
Ich selbst will ja auch weiterarbeiten, selbst wenn ich im Grunde schon lange pensioniert wäre. Es ist doch normal, dass man weitermacht, es ist kein Müssen. Sonst müsste ich ja gar nicht mehr leben.
Es geht mir leicht von der Hand, etwas zu erfinden. Aus dem einen entwickelt sich das andere. Es fällt mir zu. So wie mein neuer Atelierplatz in der Hofstrasse 15 in Zug.
Zwischen Weihnachten und Neujahr 2018 habe ich überlegt, wie ich einen Abgang machen könnte. Ich bin nun 50 Jahre selbstständig. Das heisst jeden Monat das Geld zusammenzubringen für eine Bude, für eine Wohnung, einen Haufen Geld für Schmuck-Versicherungen und das ganze Material. Das ist ziemlich schwierig. Ich habe entschieden, zu minimieren und die Galerie aufzugeben. In der Ateliergemeinschaft finde ich mehr Ruhe zum Arbeiten. Aber es kommt bereits wieder Neues dazu. Ich überlege gerade, was ich noch tun könnte. Wir möchten nämlich, dass das Atelier bekannter wird, da helfe ich gerne mit. Langweile kenne ich nicht. Ich wurde auch schon gefragt, was ich tun würde, wenn ich nicht das machte, was ich mache. Dann würde ich etwas anderes tun. Zum Beispiel lesen. Tagelang.
Zu den Entdeckern gehört auch Heiri Scherer. Ob Most, Zuger Chriesi, Stierenmarkt oder Masken: Er spürt alte Kulturschätze auf und schenkt ihnen mit seinen Büchern neue Beachtung.
Heiri Scherer ist Herausgeber, Buchgestalter und Ausstellungsmacher. Nach der Grafikfachklasse an der Kunstgewerbeschule Luzern arbeitete er unter anderem 17 Jahre lang als Art Director und Creative Director bei Globus Warenhäuser Zürich. Bis 2011 war er Mitinhaber der Werbeagentur Scherer Kleiber CD. Vor 20 Jahren entwickelte er das Erscheinungsbild der Stadt Zug. Neben all dem hat er immer eigene Projekte auf die Beine gestellt: den Zuger Abenteuerspielplatz Fröschematt mitbegründet, geholfen aufzubauen und zehn Jahre als Präsident geleitet oder zwei Ausstellungen im Kunsthaus Zug umgesetzt und viele im Chamer Kunstkubus organisiert.
Heiri Scherer, 76, Autor, Ausstellungs- und Buchmacher
Ich habe die Fühler immer draussen. Unsere Wurzeln interessieren mich. Da gibt es einen Wahnsinnsreichtum, den wir immer unter Geschichte abhaken. Aber damit ist es nicht getan. Oft handelt es sich um Kulturgut, wovon viele Leute gar keine Ahnung mehr haben. Das bewusst zu machen, ist mein Anspruch. Ich habe zum Beispiel ein Buch über den Zuger Stierenmarkt herausgebracht, heute noch der grösste weltweit. Den gibt es schon seit 120 Jahren. Das ist unglaublich, es hat noch nie zuvor ein Buch darüber gegeben. Da habe ich den Verband angerufen, und sie sagten sofort, sie wären froh, jemand würde das in die Hand nehmen.
Und dann dieser Riesenzufall: Ich war für ein anderes Buch im Ringier-Fotoarchiv Aarau auf der Suche nach Bildern. Beim Durchstöbern greife ich zufällig in die Kartei mit dem Zuger Stierenmarkt. Da waren doch tatsächlich sieben historische Foto-Reportagen drin, die noch nie vergrössert und veröffentlicht worden waren. Das war fast nicht zu glauben. Früher traf sich halb Zug da draussen, und die Jungs verdienten ein Sackgeld mit Schuheputzen. Von solchen Szenen gibt es keine Fotos ausser diesen. Sie machen nun den Hauptteil im Buch aus. Das finde ich das Verrückteste, wenn so was passiert. Mich treibt die Neugier an. Es nimmt mich einfach wunder. Ich finde es spannend, wenn man anfängt zu graben, was man alles findet. Bücher sind immer lange Projekte, so zwei bis vier Jahre. Ich gehe immer gleich vor: Ich recherchiere, lege mir ein Konzept zurecht, hole sehr gute Autoren und koordiniere und springe dem Geld nach.
Wenn du so durch die Welt läufst wie ich, begegnest du Themen, die sich stetig anreichern.
Ich habe zum Beispiel an der Fasnacht in Gersau in einer Beiz Käsekuchen gegessen. Da waren wunderschöne Masken um die Lampen drapiert. Ich fragte den Beizer, woher er die habe. Er gab mir den Kontakt von Verena Steiger aus Steinen. Ich habe sie angerufen, und sie hat mir ihre beeindruckende Sammlung gezeigt. Es ist die älteste in der Schweiz: 470 Maskenformen aus Gips. Von vielen Schweizer Traditionsmasken die Negativ- und Positivformen, vom Blätz in Schwyz bis zum Ueli in Basel, vom Till Eulenspiegel bis zum Globi, aber auch Fuchs und Hase.
Verena Steiger ist «Drückerin» – sie macht die feinen Wachsmasken, die früher zu Tausenden in Deutschland, Frankreich und der Schweiz gefertigt wurden. Inzwischen wissen wir, dass sie in Europa die Letzte in diesem Metier ist. Dazu kommt die Schwyzer Fasnacht, da werden nur diese Steiger-Wachsmasken getragen und – man glaubt es kaum – am Güdeldienstag nachts um zwölf Uhr auf dem Hauptplatz verbrannt. Da war mir klar: Das ist ein unglaubliches Thema für ein Buch. Übrigens, viele Schwyzer haben von diesem Kulturgut von nationaler Bedeutung nichts gewusst. Was mich besonders freut ist, dass die drei Bücher «Most», «Muni» und «Masken» im Verlag NZZ Libro erschienen sind.
Neben den Büchern bin ich seit acht Jahren im «KunstkubusCham» dabei und mache als Kurator zusammen mit den anderen Ausstellungen. Das ist pures Vergnügen! Eine der schönsten Ausstellungen war der Farbkasten mit lauter Pigmenten aus dem Kanton Zug. Den wollen wir nächstes Jahr neu auflegen. Er war so gefragt, wir hätten ihn bestimmt 300 bis 400 Mal verkaufen können. Wir hatten gerade mal 120 Stück produziert. Wie die Farbe Weiss entstand, war auch so ein Zufall: Ich hätte gerne ein Höllschwarz gehabt, passenderweise aus dem Gebiet der Höllgrotte. Als wir dann Steine aus der Höhle bekamen, gab das nicht etwa wie erhofft ein Schwarz, sondern ein schönes Weiss: das Höllgrottenweiss. Was für ein Kontrast! Es kommt nicht immer so, wie man es erwartet, das muss auch nicht sein. Es ist ganz wichtig, dass man wirklich offen ist für die Kurven des Schicksals, die es in solchen Projekten mit einem schneidet. Man läuft an Dinge ran, die plötzlich ganz anders sind. Ich probiere immer, Probleme aus einer anderen Ecke anzuschauen, ich gehe nicht gerade an etwas heran.
Ich habe mit meiner Grafikagentur aufgehört, als ich pensioniert wurde. Aber eigentlich habe ich nicht aufgehört, sondern einfach anders weitergemacht, mehr mit dem, was ich immer gerne mochte. Ich zeichne zum Beispiel. Ich habe mein Skizzenbüechli und ich koche gern. Wenn ich irgendwas an einem Menü abändere, zeichne ich das Rezept hinein. Aber nein, das werde ich bestimmt nie herausgeben. Das mache ich einfach für mich.
Ich würde es ganz vielen Leuten gönnen, Dinge zu tun, woran sie den Plausch haben. Aber wenn du vorher nichts in eine für dich wichtige Richtung unternommen hast, ist’s nachher auch schwierig.
Man kann nicht plötzlich was erfinden. Ich weiss, dass ich nie aufhören werde. Ich bin ein kreativer Schaffer. Und ich bin nicht so gerne im Vordergrund. Wenn du Sachen angehst und gerne mit den Leuten redest, kommen die wirklich guten Kontakte und du findest Geschichten. Ich gehe einfach auf die Leute zu. Ob das Vernetzen ist? Ich hatte schon immer Mühe mit diesem Wort. Für mich hat das mit Machen zu tun. Das ist keine intellektuelle Geschichte, sondern etwas sehr Handfestes. Dinge anreissen und dann wieder gehen, das ist nicht mein Ding. Wenn ich was auf die Beine stelle, dann ziehe ich es auch durch.
Aufbauen und Organisieren sind in Susanna Fassbinds Leben zentral: Sie will schweizweit die Altersvorsorge mit Zeitgutschriften revolutionieren und damit eine geldfreie vierte Vorsorgesäule einführen.
In ihrem 2017 erschienenen Buch «Zeit für dich – Zeit für mich» beschreibt sie ihr Konzept für diese neue Form der Nachbarschaftshilfe, von der alle Generationen, Wirtschaft und Staat profitieren können. Die von ihr initiierte Fondation KISS unterstützt die Gründung von KISS-Genossenschaften, wie es sie bereits in Zug, Cham und vielen anderen Gemeinden gibt. Fassbind strebt eine institutionalisierte Zusammenarbeit von Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft an. 2017 hat sie mit ihrer Vision den ersten Preis des Ideenwettbewerbs «Wunsch-Schloss» und den Swiss Re Milizpreis gewonnen.
Susanna Fassbind, 76, Pionierin und Präsidentin Förderverein KISS Zug
Das Rampenlicht suche ich nicht. Ich bin von Haus aus scheu, ich gebe nicht viel von mir preis. Wenn ich als Mutter von KISS auftrete – die Leute betiteln mich so –, muss ich halt hinstehen. Grad bei der Suche von Stiftungsgeldern ist das ausschlaggebend. Ich habe ein gutes Gedächtnis und kann jede Zahl einfach so hinschmettern. In der Politik haben sie mir jeweils gesagt, ich «schnorre sie an die Wand», das ist für viele schwierig. Authentizität ist für mich entscheidend, dass die Leute merken, ich bin mit Kopf, Herz und Taten bei der Sache. Darum besteht das KISS-Logo auch aus Herz-Kopf-Hand – angelehnt an Pestalozzi. Nur habe ich das Herz an erste Stelle genommen. Es steht für die Menschlichkeit.
Es bewegt die Leute schon, dass Menschen verarmen und vereinsamen, weil kein menschenfreundliches System sie auffängt. Finanziell vielleicht schon, aber abseits von Humanität. Meine Mutter hat zum Beispiel ihr ganzes Leben lang gearbeitet und wollte immer selbstständig sein, sie hatte ein Haus, etwas Reserven, die dann aber im Heim rasant dahinschmolzen. Es bedrückte sie unendlich, plötzlich vom Staat abhängig zu sein. Sie hat das nie gewollt. Lieber wollte sie sterben. Das hat sie dann auch gemacht. Für mich war das eine Wende.
Wenn du nicht ein Leben lang mindestens 70 Prozent in die AHV eingezahlt hast, verschärft sich das im Alter. Es ist ganz klar auch ein grosses Frauenthema.
Und die Jüngeren werden in ihrer Altersvorsorge hintergangen. Sie müssen jetzt schon viel mehr zahlen und werden viel weniger erhalten. Meine Idee ist es, mit KISS schweizweit eine geldfreie vierte Vorsorgesäule in Form von Zeitgutschriften einzuführen. Für jede geleistete Stunde Freiwilligenarbeit wird eine Stunde gutgeschrieben – eine direkte Unterstützung von Mensch zu Mensch.
Ich habe rund 15’000 Freiwilligenstunden für KISS geleistet. Ich werde immer Unterstützung haben, bin sozial gut vernetzt und habe keine Ängste. Es kann sein, dass ich rein äusserlich ruhelos wirke, dafür habe ich aber eine innere Ruhe. Mit 40 Jahren durchlebte ich einen grossen Wechsel. Vorher habe ich extrem viel gemacht, mir Allergien eingefangen und gemerkt, dass ich mehr Ruhe in mein Leben reinbringen muss. Ich habe mich strukturiert runtergefahren. Heute stehe ich morgens um fünf Uhr auf und meditiere. Ab sechs Uhr abends mache ich nichts Berufliches mehr. Ich nehme mich zurück, wann immer ich kann. Ich lebe ohne Uhr, Handy, TV und Flugreisen, lebe vegetarisch, vielfach vegan – ausser bei Käse werde ich manchmal schwach. Ich brauche keine einzige Pille und bin fit in jeder Beziehung.
Eigentlich gibt es keine Berufsbezeichnung für mich. Ursprünglich habe ich Geschichte und Deutsch studiert, danach in Marketing, Werbung, Journalismus und als ETH-Dozentin gearbeitet. Ich habe sicher um die 20 verschiedene Berufe ausgeübt. Einmal habe ich sogar für eine Firma zwei Strickheftli gestaltet, habe über Wein geschrieben, Duschvorhänge und meine Heimkollektion designt sowie in den Kantonen Zug und Uri ein neues Abfallmanagement mit Sackgebühren miteingeführt und Homöopathin gelernt. Ich war in der Politik und im Umweltmanagement. Jedes Mal, wenn ich fand, ich kann das, bin ich wieder weitergezogen. Meine Aufgabe ist jetzt, meine Gaben zu nutzen, um KISS zu etablieren. Daran will ich arbeiten bis ich 90 bin. Darum muss ich zu meinem Körper, als Hülle meiner Seele, gut schauen.
Es braucht für diese Arbeit viel Langmut und Mut, immer wieder neu aufzustehen, bis es gelingt. Ich tue das für mich.
Ich weiss, dass ich polarisiere, weil ich geradeheraus rede, ich bin kein Wischiwaschi-Mensch.
Das Härteste am Pioniersein sind die Anfeindungen von aussen. Einfach «out of the blue», eine Behauptung, eine Lüge, wo ich ganz tief im Innersten weiss, das stimmt so nicht. Manchmal habe ich hart geschluckt und mehr als eine Nacht drüber gebrütet. Das ist schon fordernd. Ich darf dann sofort nichts sagen, sondern muss in Ruhe abwarten. Ich bin sehr bewusst, was ich will im Leben und auch bezüglich des Sterbens. Es gibt kein Leben ohne Abgang. Wenn ich gehe, will ich mir geistig auf die Schultern klopfen und sagen: Das hast du gut gemacht. Das ist in wichtigen Fragen mein letzter Entscheidungspunkt. Ich hatte nie ein Problem damit. Ich tue einfach, was für mich stimmt, ethisch bewusst. Ich will mich da überhaupt nicht selbst rühmen. Das ist einfach meine Haltung. Alles andere würde mich kaputt machen. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.
Obwohl alle vier Persönlichkeiten in Zug einigermassen bekannt sind, wirken sie nicht wirklich versessen auf das Rampenlicht. Martin Riesen projiziert das Licht sowieso am liebsten an dunkle Wände, während Heiri Scherer gerne im Hintergrund Licht ins Dunkle bringt. Susanna Fassbind steht zwangsläufig für ihre Sache ab und zu im Rampenlicht, jedoch stets darauf bedacht, nicht zu viel von ihrer Person preiszugeben, und auch Brigitte Moser redet lieber über die Strahlkraft ihrer Objekte als über sich. Umso erfreulicher, dass alle bereit waren, einen Einblick in ihr Tun, in ihre Persönlichkeit und ihren Schaffensdrang zu geben.
Neujahrsblatt lesen und was Gutes tun?
Einblick in einen Mikrokosmos, zu dem man normalerweise keinen Zugang hat. Schräg, lustig und traurig: Ein Bildband jenseits der Klischees.
Es soll einladen zum Blättern, Schneuggen und die Arbeit von Stadtgrün Luzern sichtbar machen: Das Stadtgrünbuch. Was in zwei Jahren Recherche und Rep...
Ein Praktikum und ganz viele Einblicke. Wie Shirin die Zeit bei scharfsinn erlebte und was einen Satz total unsexy macht.